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Wie der Pride und LGBTQIA+ Sichtbarkeit mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin

Diese Geschichte soll Dir einen kleinen Einblick darüber geben, wie es sich anfühlt, als homosexueller Mensch in Deutschland aufzuwachsen. Ich möchte Dir meinen Konflikt und Schmerz zeigen und wie es ist, in einer Welt homosexuell zu sein, in der die Gesellschaft und auch meine eigene Familie durch soziale und religiöse Normen geprägt sind, welche Heterosexualität als die Normalität ansehen. Ich teile diesen sehr intimen Einblick, damit jede Person, der / die / sein / ihr meine Geschichte liest, etwas Positives daraus ziehen kann, wie Inspiration und Verständnis. Es ist wichtig zu erwähnen, dass alle LGBTQIA+1 Menschen unterschiedliche Erfahrungen sammeln und obwohl jede Geschichte einzigartig ist, haben wir eines gemeinsam: Den Kampf gegen das, was uns unsere Familien, die Gesellschaft und die Religion versucht haben, als “richtig” und “normal” zu vermitteln.

Ich bin ein weißer, schwuler cis2-Mann und aufgrund dieses Privilegs unterscheiden sich meine Erfahrungen zu denen von Trans* Menschen, Menschen mit einem anderen Gender3 und BPoC4 LGBTQIA+ Menschen. Wenn Du noch nicht geoutet bist oder Schwierigkeiten hast, Dich selbst zu lieben und zu sehen, dass Du gut bist wie Du bist, hoffe ich, dass meine Geschichte Dir Kraft geben kann und zeigt, dass sehr viel Liebe um Dich herum ist. Wenn Du ein Ally5 bist oder werden möchtest, würde ich mir wünschen, dass meine Lebensgeschichte Dich dazu ermutigen kann, mit mir, mit uns, mit allen LGBTQIA+ Menschen auf der ganzen Welt für Gleichberechtigung zu kämpfen und an unserer Seite zu stehen, unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Alter, Behinderung, ethnischer Herkunft, Religion und Weltanschauung.



Ich wurde 1984 in Polen als Sohn deutscher und polnischer Eltern geboren. Wir sind in eine konservative Stadt in Deutschland gezogen, als ich 5 Jahre alt war. Meine Eltern, hauptsächlich meine Mutter, haben mich sehr konservativ, katholisch und heteronormativ erzogen. Dies bedeutete, in die Kirche zu gehen, ein starker Mann zu sein und niemals zu weinen oder Anzeichen von Schwäche zu zeigen. „Männer müssen stark sein...”, “Gefühle zeigen ist Schwäche...", zumindest haben mich das meine Mutter, die Gesellschaft und die Medien gelehrt. Das übte großen Druck auf mich aus, insbesondere, weil ich meine Gefühle nicht ausdrücken und nicht darüber sprechen konnte, wie ich mich wirklich fühlte. Diese Unfähigkeit, über meine Gefühle zu sprechen und die große Angst „schwach“ zu wirken, hielt mich zurück, bis ich ungefähr 28 Jahre alt war. 

Während ich diesen Artikel schreibe und über meine Vergangenheit reflektiere, wird mir klar, dass ich in meinen frühen Teenagerjahren mit Fremdenfeindlichkeit gegenüber mir und meiner Familie leben musste. Mein damaliger Vorname Blasius führte zu Mobbing und Diskriminierung, ständigen Wortspielen und Homophober-Witze über mich und meinen Namen. Lehrer*innen, die manchmal auflachten, als sie das erste Mal meinen Namen lasen, waren die Normalität für mich. Es ging so weit, dass ich meinen Namen offiziell habe ändern lassen, als ich 16 wurde. Ich hatte auch Freund*innen und Klassenkamerad*innen, die mir sagten, dass ich hässlich sei, dass ich “ein polnischer Junge bin, der mitgenommen aussieht“ (ein deutscher Witz, darüber, dass Menschen aus Polen immer klauen) und viele weitere fremdenfeindliche Witze gegen Nichtdeutsche. Während ich mich schlecht fühlte, weil ich anders war, wurde mir klar, dass ich irgendwie nicht „normal“ war – dass etwas mit mir nicht stimmte. Wenn ich Bilder von Männern und Frauen sah, fühlte ich mich immer zu Männern hingezogen. 

Als ich aufwuchs, wurde mir immer klarer, wie anders ich war. Meine Freunde fingen an, über Frauen zu sprechen und obwohl ich anders fühlte und dachte, nahm ich an den Gesprächen über Frauen teil, um Teil der Gruppe zu sein. In meinem Kopf allerdings wollte ich über Männer sprechen und wie ich mich von ihnen angezogen fühlte. Das Unterdrücken und Verstecken meiner wahren Gefühle führte zu einem Konflikt mit mir selbst, der mich immer wütender machte. Als ich 16 Jahre alt war, wollte ich mir sicher sein, dass ich schwul bin. Ich lud einen älteren Mann ein, den ich im Internet kennengelernt hatte. Er kam zu mir, als meine Eltern meine Verwandten in Polen besuchten, und ich allein zu Hause war. Der Mann war sehr fürsorglich und nett und es war wirklich wunderschön in dem Moment, aber als es vorbei war, wurde mir klar, dass ich etwas falsches getan hatte, etwas schlimmes, ekelhaftes und abnormales. Ich sagte ihm, er solle nach Hause gehen. Von diesem Zeitpunkt an kreisten meine Gedanken um „Warum muss ich ein “Polake” sein?“, „Warum muss ich hässlich und fett sein?“ und „Warum in aller Welt muss ich auch eine abnormale Missgeburt sein, die auf Männer steht statt auf Frauen?“ 



Ich habe nicht wirklich verstanden, was Homosexualität ist oder bedeutet. Ich wusste nur, dass es falsch und abnormal ist. Die mangelnde Sichtbarkeit für queere Menschen in meiner Umgebung und in den Medien hat dazu entschieden beigesteuert. Es bestand immer die Gefahr, „entdeckt“ zu werden. Daher blockierte ich alles, was mir oder meiner Umgebung bestätigen könnte, dass ich schwul war. Ich war von immer mehr und mehr Selbsthass erfüllt und habe meine Teenagerjahre damit verbracht, "normal" zu sein, “hetero” zu sein, ein “richtiger” Mann zu sein. Ich hatte keine Person, mit der ich über meine wahren Gefühle und mein tiefes Verlangen, geliebt zu werden und mit einem Mann zusammen sein, zu sprechen. Ich hatte „normale“ Freund*innen und ein „normales“ Leben, aber tief im Inneren wuchs mein Selbsthass mehr und mehr bis zu einem Punkt, an dem ich anfing, Selbstmordgedanken zu entwickeln. Zum Glück war ich in der Lage, sie jedes Mal abzuwehren.

Mit der Zeit wurde mir langsam immer klarer, dass ich nicht allein war. Ich schrieb online auf queeren Plattformen mit anderen homosexuellen Menschen und habe immer mehr recherchiert, was Homosexualität wirklich ist. Dieser Prozess hat Jahre gedauert, da ich immer das Gefühl hatte, etwas illegales und falsches zu tun. Nach mehr und mehr Chats erreichte ich einen Punkt, an dem ich mich nicht mehr hassen konnte. 2007 habe ich mich mit 23 Jahren bei einer sehr guten Freundin geoutet. Dieser Schritt fühlte sich befreiend an. Endlich war mein Geheimnis gelüftet und ich war frei. Im Laufe der Jahre outete ich mich zu immer mehr Freund*innen, ging zu queeren Partys, fand großartige neue Freund*innen und verlor alte auf dem Weg. Diese Verluste musste ich akzeptieren. Aber geoutet zu sein, zu sein, wer ich bin und neue Freund*innen zu finden, die mich auch genauso liebten wie ich bin, war den Schmerz wert, der durch den Verlust alter Freund*innen entstanden war.

Ich hatte meinen ersten Freund, als ich 24 Jahre alt wurde. Er nahm mich mit zu meinem ersten Christopher Street Day (CSD) in Köln (Cologne Pride5 2009). Anfangs wollte ich nicht gehen, weil ich dachte, wir sollten nicht zu offen sein, wir sollten uns nicht zu sehr in der Öffentlichkeit zeigen um „normale“ heterosexuelle Menschen nicht zu belästigen und zu triggern. Wir sollten froh sein, dass wir das tun können, was wir schon können... Ein verstecktes Leben unter dem Radar, was auch der Grund war, dass unsere Beziehung am Ende nicht sehr lange andauerte. Zum Glück hatte er mich damals überzeugt und wir sind nach Köln gefahren. Als wir dort ankamen und zum Startpunkt der Pride-Parade gingen, fing ich an zu weinen und brach fast zusammen. Ich war überwältigt von positiven Emotionen, ich hatte nicht nur meinen ersten Freund, sondern war umgeben von offen lebenden LGBTQIA+ Menschen. Ich fühlte mich endlich normal, ich war nicht allein. Es gab Tausende von Teilnehmer*innen und sie waren geoutet, stolz, glücklich, feierten, demonstrierten und versteckten sich nicht!



Dies war der Moment, in dem mir klar wurde, wie großartig unsere Community ist, wie viel Liebe sie hat. Aber auch wie viel wir noch erreichen müssen, um zu sein wer wir sind, ohne Angst zu haben oder daran zu denken, “falsch” zu sein, „normal“ zu handeln oder unter dem Radar zu fliegen. Dieser Pride zeigte mir, wie wichtig er war: Er war und ist ein “safe space”, ein sicherer Raum, ein Raum voller Liebe und vieler Allies und LGBTQIA+ Menschen. Damals realisierte ich endlich, dass ich nicht allein war und von diesem Zeitpunkt an dauerte mein Weg, mich ohne jeglichen Zweifel oder Rückhalt zu 100% zu akzeptieren, bis ich ungefähr 28 Jahre alt war. Im Laufe der Jahre lernte ich, wie wichtig Pride und jeder sichere Raum sind. Diese sicheren Räume und Veranstaltungen sind ein Hafen für alle LGBTQIA+ Menschen, die denken oder dachten, dass sie anders und abnormal seien. Es ist extrem wichtig, alle zu erreichen, die gerade herausfinden, wer sie sind, dass sie genauso richtig sind, wie sie sind. Denn sie werden geliebt und haben eine wundervolle und große Community hinter sich.

Der Kampf für Gleichberechtigung ist leider noch lange nicht vorbei. Selbst heute, mit fast 36 Jahren, bemerke ich manchmal, wenn ich einen Mann in der Öffentlichkeit küsse, einen fernen Gedanken, dass es jemandem unangenehm sein könnte, es jemanden provozieren könnte oder einen Grund geben könnte, uns zu beleidigen oder mich / uns zu belästigen. Ich reise auch nicht an bestimmte Orte und in bestimmte Länder, um nicht gemobbt, gehasst oder sogar getötet zu werden. Ich sage das, obwohl ich das Privileg habe, nicht „schwul“, sondern “hetero” zu wirken, was auch immer das bedeutet... Dies zeigt noch mehr, wie wichtig Sichtbarkeit, Pride und Bildung heute noch sind. Es ist nach wie vor ein Kampf für unsere Rechte, zu existieren, zu leben und zu lieben, wen wir lieben wollen. Es schließen sich uns immer mehr Menschen an und helfen uns, sichtbarer zu werden. Auch sie wollen, dass wir so sind wie wir sind und lieben wen wir lieben! Ich unterstütze und verteidige diesen Kampf mit jeder Faser meines Körpers. Ich stehe hinter jedem Mut gegen jede Art von Ungerechtigkeit und Diskriminierung gegenüber Menschen, unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Alter, Behinderung, ethnischer Herkunft, Religion und Weltanschauung!



Dieser Antrieb und Kampf gegen Ungerechtigkeit und, ich selbst zu sein, und, der zu sein, der ich bin, führten mich zu Thoughtworks. Nachdem ich in Umgebungen gearbeitet habe, in denen ich immer einen Teil dessen verbergen musste, wer ich bin und wofür ich stehe, hatte ich es satt, meine Stimme nicht gegen irgendeine Art von Ungerechtigkeit erheben zu können. Gleichberechtigung ist keine Privatsache und jede Art von Hass und Diskriminierung muss bekämpft werden. Thoughtworks als Unternehmen ermutigt uns alle, offen zu sein und zu sein, wer wir sind, und über jedes Thema zu sprechen, das uns in eine Welt führt, die inklusiv ist und jede Person respektiert, wie er / sie / sein / ihr ist.

Nachdem ich im Oktober 2019 bei Thoughtworks angefangen habe, wuchs mein Selbstvertrauen seit der Einführung in die Unternehmenskultur. Meine Überzeugung gegen jede Art von Diskriminierung und Ungerechtigkeit anzugehen war nicht mehr nur meine private, sondern eine kollektive. Ich bin umgeben von wundervollen Menschen mit erstaunlichen Geschichten und wundervollen Mindsets, die lernen wollen, besser werden wollen, anderen helfen wollen zu wachsen, ihre Erfahrungen teilen und ihre Stimmen Menschen geben, die selbst keine haben, weil sie nicht gehört werden, Menschen die ihr Privileg anderen leihen, damit diese gehört werden. Ich bin an einem relativ sicheren Ort für alle Menschen, unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Alter, Behinderung, ethnischer Herkunft, Religion und Weltanschauung. Jede Person kann sein, wer und wie er / sie / sein / ihr sind. Der Diversity & Inclusivity Council (Rat für Vielfalt und Inklusivität) in Deutschland und weltweit sagt nicht nur, dass Thoughtworks vielfältig und inklusiv sei. Thoughtworks wachse, lehre und lernte kontinuierlich weiter in allen Aspekten dieser Angelegenheit, um besser zu werden und für Gleichberechtigung in allen Bereichen zu stehen. Ich bin dem D&I Council beigetreten und habe mit anderen queeren Kolleg*innen QueerWorks ins Leben gerufen, um mit dem Council zusammenzuarbeiten und LGBTQIA+ Themen voranzutreiben und um positive Veränderungen in unserem Unternehmen und überall dort zu schaffen, wo wir sie bewirken können.

Wenn Du noch dabei bist, herauszufinden, wer Du bist, versuche Dich online mit queeren Menschen zu vernetzen, versuche Freund*innen und sichere Räume zu finden, bei denen Du Dich entfalten kannst und sein kannst wie Du bist. Die Community schenkt viel Liebe und Unterstützung, es gibt sehr viele großartige Menschen. Wenn Du ein Ally bist oder werden möchtest, unterstütze den Pride, nimm an Demonstrationen teil, setze Dich für Gleichberechtigung ein, bilde Dich und andere in Deiner Umgebung, schaffe einen positiven Impact. Wenn Du siehst, dass die Stimme einer anderen Person zum schweigen gebracht oder überhört wird, helfe dieser Person, gib ihr eine Stimme, gib ihr Deine Stimme, damit diese Person gehört werden kann und das Wichtigste ist, hör zu, was wir zu sagen haben.

Fußnoten:
  1. LGBTQIA+: L, Lesbisch. G, Gay/Schwul. B, Bisexuell. T, Transsexuell/Transgender. Q, Queer/Questioning (Hinterfragend). I, Intersexuell. A, Asexuell/Aromantisch. + Und viele mehr
  2. CIS/Gender: Was bedeutet Cisgender?
  3. BPoC: Black and People of Color
  4. Ally: Verbündete, https://guidetoallyship.com/
  5. Pride: Gay Pride, auch LGBT-Pride oder einfach nur Pride ist ein Begriff, der aus der Lesben- und Schwulenbewegung stammt, um den selbstbewussten bzw. selbstachtenden und damit stolzen Umgang mit der eigenen sexuellen Identität zu beschreiben.

Hinweis: Die in diesem Artikel geäußerten Aussagen und Meinungen sind die der Autor:innen und spiegeln nicht zwingend die Position von Thoughtworks wider.

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